Der Vereinatunnel macht's möglich: Eine Tageswanderung auf dem Höhenweg,
der einstigen Säumerroute des Unterengadins; über blumenreiche Sonnenterrassen,
von Dorf zu Dorf, von Höhepunkt zu Höhepunkt.
Wir beginnen unsere Wanderung in Lavin (1420 m.ü.M). Vorerst kehren
wir beim Dorfbäcker Giacometti ein (Tel. 081 860 30 30), um uns für die
Tour zu stärken oder vielleicht auch noch eines seiner guten Birnbrote zu
erstehen. Wir lassen Lavin mit seiner kleinen Kirche aus dem 15. Jh. mit 1956 entdeckten
Temperamalereien eines vermutlich italienischen Meisters hinter uns und ziehen
an Gonda, 1570 noch ein Dorf mit etwa 30 Häusern, 1740 aber längst
verlassen und heute nur noch überwucherte Ruinen, vorbei.
Nach einer guten Stunden erreichen wir das Dorf Guarda (1650 m.ü.M),
Heimat des Schellen-Ursli.
Der "Schellenursli" ist ein Engadiner Märchen, geschrieben
von Selina Cönz und herrlich illustriert von Alois Carigiet. Ursprünglich
in Romanisch verfasst, wurde es im Verlaufe der Zeit in unzählige Sprachen
übersetzt und in ebenso vielen Ländern verlegt und gelesen.
Die Chasa Engiadinaisa, das Engadinerhaus, ist eine besonders originelle
Behausung. Es imponiert die blockhaft gedrungene Form der Steinbauten. Dicke Mauern
umschliessen Innenräume von erstaunlicher Kultur. Wohnhaus, Scheune und Stall
sind unter einem Dach. Der Ökonomieteil ist oft in die monumentale Erscheinung
des Gesamtbaues einbezogen. Woher rührte der Wohlstand in diesen Bergtälern?
- Nach Ende des 30jährigen Krieges blühte der europäische Handel
wieder auf, der Transitverkehr über die Bündner Routen nahm zu, auch
die Bauern profitierten davon. Dazu kam Geld, das die Auswanderer in fremden Ländern
verdienten, Rückwanderer liessen sich wieder im Dorf nieder. - Die Romanen
sind zierlustig! Das mildert den Eindruck des Massigen bei diesen Steinhäusern.
Die trichterförmigen Fenster lassen viel Licht durch dicke Mauern, aus Korbgittem
leuchten Engadinernelken. Durch die einst aus Italien eingeführte
Sgraffitotechnik erhält die Steinschwere den Eindruck von Leichtigkeit und
Poesie. Über diese Dekorationstechnik schrieb der verdiente Architekt und
Restaurator U. Könz im «Engadinerhaus»: «Die Hausmauer wird
zuerst roh verputzt, dann mit einem feinen Kalkputz versehen, der mit der Kelle
angebracht, verteilt, angedrückt und geglättet wird. Auf dem frischen
Putz werden diejenigen Stellen, auf welche die Dekoration zu stehen kommt... mit
ziemlich dick angemachter Kalkmilch bestrichen. Die Ornamente können dann,
solange der Putz noch weich ist, aus der weisslichen Fläche herausgekratzt
werden und erscheinen dunkler, in der Farbe des Fassadenputzes.»
Hier bewundern wir die Fassadendekorationen, die Erker, stattliche Eingangstüren,
Reliefwappenschilder, die schönen Dorfbrunnen. Das Mittagessen nehmen wir
im Hotel Piz Buin ein. (Tel. 081 861 30 00)
Nach dem Mittagessen führt unser Weg Richtung Bos-cha (1664 m.ü.M)
wo wir einen prachtvollen Blick auf die Bisoc Gruppe haben. Wer erblickt das Schloss
Tarasp zuerst? Ein idyllischen Wanderpfad führt uns durch lichten Wald und
blumenreiche Alpenwiesen bei Muglin zur letzte noch von Wasser angetriebene Mühle
des Engadins.
Schon erreichen wir unser Ziel Ftan (1633 m.ü.M) mit dem schlankem,
hohem Kirchturm mit der Aussicht hinunter ins Tal, auf Scuol, hinüber auf
die Terrasse von Tarasp mit dem auf einem Gupf thronenden Schloss und weiter zu
den Unterengadiner Dolomiten! Was will man noch mehr?
Das Gebiet der Gemeinde Ftan erstreckt sich vom Inn auf 1'200 M.ü.M.
bis zum Augstenberg auf 3'230 M.ü.M. Von den gesamthaft 4'311 ha werden ca.
500 ha von 25 Landwirten bewirtschaftet. Die Hauptsiedlung liegt auf 1'648 M.ü.M.
und umfasst ca. 35 ha. Um die Neuansiedlung zu fördern hat die Gemeinde eine
Bauzone "Fionas" geschaffen, in der die Gemeinde den Anwohnern Bauparzellen
zu günstigen Bedingungen vermittelt. Die Bevölkerung findet ihr Einkommen
im Tourismus, im Dienstleistungsbereich, im Kleinhandwerk und in der Landwirtschaft.
Da die Zentrumsgemeinde Scuol nur 6 Km entfernt liegt, sind auch Pendler in Ftan
wohnhaft.
Die Geschichte des Dorfes Ftan ist eine Folge von Katastrophen:
1499 wurde die Gemeinde im Schwabenkrieg zerstört, 1587 raffte die Beulenpest
613 Personen dahin, 1622 Zerstörung durch die Baldiron-Horden, 1629 bis 1635
neue Pestwelle, 1682 vernichtete eine Lawine den Bannwald und viele Häuser,
von 61 Verschütteten waren 29 tot, 1723 wütete ein Dorfbrand, ebenso
1794 und - ein letztes Mal - 1885, als 48 Häuser zerstört wurden. Andere
Katastrophen sind nicht zu datieren, weil die Archive zugrunde gingen... Nach 1885
sollte mit einer neuen Bauordnung die Brandgefahr vermindert werden. Im Einzugsgebiet
der Lawinen wurden Verbauungen und Aufforstungen vorgenommen, Ftan ist sicher geworden.
Die Zerstörungen haben aber damals viele Ftaner zur Auswanderung gezwungen.
Sie gingen nach Venedig, Triest, Modena, La Spezia, Genua, Neapel, Berlin, Kopenhagen,
Danzig, Königsberg, Bordeaux, ja selbst nach Russland, den Bermudas und in
viele andere Länder. G. Theobald schrieb 1860 «Die Einwohner zeichnen
sich durch Intelligenz aus.» Eine hilfreiche Eigenschaft! Sie haben in der
Fremde z.T. bedeutende Unternehmungen aufgebaut und fanden meist auch den Weg in
die Heimat zurück. - Andrea Rosius à Porta (1754-1838) förderte
im Unterengadin das Schulwesen im Sinne Heinrich Pestalozzis, den er kannte. Eine
- späte Folge seines Wirkens war die Gründung des «Hochalpinen
Töchter-Instituts».
Wenn die Zeit noch reicht, geniessen wir dies bei einem kühlen Trunk auf der
Terrasse des Hotel Engiadina (Tel. 081 864 04 34), bevor uns das Postauto in vielen
Kurven zur Station Scuol/Tarasp bringt.